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Bayern – Hotspot der radikalen Abtreibungsgegner:innen

Beim 16. „Marsch für das Leben“ in Berlin im September 2020 spielten bayerische Akteur:innen eine tragende Rolle. Das ist kein Zufall: Bayern ist ein Kristallisationspunkt der sogenannten „Lebensschutzbewegung“.

Von Lina Dahm

Als Rudolf Voderholzer, der Bischof von Regensburg, den ökumenischen Gottesdienst im Anschluss an den „Marsch für das Leben“ am 19. September 2020 in Berlin eröffnet, haben viele Gäste die Veranstaltung bereits verlassen. Voderholzer wirkt etwas überfordert. Eigentlich sollte diesen Part der weitaus prominentere Berliner Erzbischof Heiner Koch übernehmen, doch der bahnt sich zu diesem Zeitpunkt noch seinen Weg durch Gegenprotest und Polizeisperren, bis er schließlich verspätet die Bühne betreten kann.

Während einige entrückt beide Hände gen Himmel heben, sitzt vor der Bühne ein Mann, der seine Einwegmaske unters Kinn geschoben hat und eines der Kirchenlieder mit seiner Blockflöte begleitet. Er ist kein Unbekannter. Bei Gebetsmärschen und Mahnwachen vor Kliniken und Beratungsstellen in München ist er seit langem einer der zentralen Akteure. Der Fundamentalist mit der Flöte ist nur einer von vielen bayerischen Abtreibungsgegner:innen, die am diesjährigen Berliner „Marsch für das Leben“ teilnehmen.

Der „Marsch für das Leben“ ist das zentrale öffentliche Event der „Lebensschutz“-Bewegung zu dem jedes Mal tausende Abtreibungsgegner:innen nach Berlin reisen. Organisiert wird die Demonstration vom „Bundesverband Lebensrecht“ (BVL), dem größten Dachverband der Szene im deutschsprachigen Raum. Trotz der anhaltenden Corona-Pandemie mobilisiert der Verband auch im Jahr 2020 bundesweit. Mit einer verkürzten Route, Masken und Abstand zueinander will man dem Infektionsschutz Rechnung tragen und die angestrebten 5.000 Teilnehmer:innen vor einer Ansteckung mit dem Corona-Virus schützen. Am Ende sind es, vielleicht auch wegen Corona, nur rund 2.500 Personen, die – meist mit Mund- und Nasenschutz und teilweise auf Abstand achtend – vom Brandenburger Tor aus durch Berlin Mitte marschieren.

Bayern als Kristallisationspunkt der „Lebensschutz“-Bewegung

Der Veranstaltungsort des Marsches ist Berlin, doch bayerische Akteur:innen spielen eine maßgebliche Rolle bei der Mobilisierung auf den Marsch und seiner Durchführung. Allein im „Bundesverband Lebensrecht“ sind mit der „Aktion Lebensrecht für Alle“ (ALfA, Augsburg), den „Ärzten für das Leben“ (ÄfdL, Marktoberdorf), den „Christdemokraten für das Leben“ (CDL) und der Stiftung „Ja zum Leben“ vier Mitgliedsorganisationen vertreten, die entweder ihren Sitz in Bayern haben, einen bayerischen Landesverband besitzen oder anderweitig über enge Verbindungen zum Freistaat verfügen. Und allein in der Liste der insgesamt 41 Unterstützer:innen des diesjährigen Marsches finden sich zehn Initiativen aus Bayern. Sechs der rund 35 eingegangenen Grußworte erreichen den BVL dieses Jahr aus Bayern, darunter das von Reinhard Schink, dem Generalsekretär und Geschäftsführer der „Deutschen Evangelischen Allianz“.

Dieser proportional gesehen hohe Anteil an bayerischen Akteur:innen verwundert nicht, wenn man die breit aufgestellte „Lebensschutz“-Szene im Freistaat betrachtet. Mindestens 16 Vereine, die sich explizit dem sogenannten „Lebensschutz“ verschrieben haben, sind in Bayern aktiv, einige davon verfügen über mehrere Ortsverbände. Hinzu kommen zahllose einflussreiche und teils finanzstarke Einzelpersonen, (extrem) rechte Parteien, katholische Fundamentalist:innen und Evangelikale, die ihrerseits „Pro Life“-Positionen in und außerhalb Bayerns vertreten und unterstützen.

Neben der Landeshauptstadt München ist Augsburg eine Hochburg radikaler Abtreibungsgegner:innen in Bayern. Die dort ansässige „Aktion Lebensrecht für Alle“ (ALfA) gründete sich 1977 und ist vermutlich der älteste „Lebensschutz“-Verein Deutschlands. Im Verein sind heute nach eigenen Angaben über 11.000 Mitglieder in 30 Regionalverbänden organisiert, neun davon in bayerischen Städten. Beim „Marsch für das Leben“ in Berlin präsentieren sich ALfA und ihre Jugendorganisation, die „Jugend für das Leben“ (JfdL), mit einem Infostand. Auf den Tischen liegen Bücher mit dem Titel „Wie geht es dir Mama? – Der lautlose Massenmord“, Ausgaben des Mitgliedermagazins „Lebensforum“ und Mützen mit der Aufschrift „Ich bin Mensch“ aus. Besucher:innen werden Fruchtgummi in Schnullerform und die bei Abtreibungsgegner:innen beliebten Plastikpuppen, die Embryonen darstellen sollen, in Stoffbeutel mit der Aufschrift „Every life is beautiful“ gepackt. Als einziges BVL-Mitglied bekommt die ALfA Redezeit bei der Auftaktkundgebung. Cornelia und Fabiola Kaminski, Mutter und Tochter, erzählen in ihrer Funktion als Vorsitzende der ALfA beziehungsweise der JfdL vom parallel zum Marsch stattfindenden Jugendkongress und der diesjährigen „Pro Life Tour“; einer Art Sommerprogramm, bei dem junge Abtreibungsgegner:innen gemeinsam durch mehrere Städte wandern, beten und ideologisch geschult werden. Als etabliertem Verein kommt der ALfA eine wesentliche Rolle innerhalb der Bewegung zu, sie verfügt über die Kontakte, ein funktionierendes Netzwerk und kann so anderen Vereinen und Initiativen helfend unter die Arme greifen.

Während die „Aktion Lebensrecht für Alle“ prominent vertreten ist, ist von den „Christdemokraten für das Leben“ (CDL) in Berlin nicht viel zu sehen. Den Vorsitz des bayerischen Landesverbandes, der im April 2018 sein 30-jähriges Bestehen in München feierte, wird derzeit von der Kommunikationstrainerin und Mediatorin Christiane Lambrecht geführt. Auf Facebook postet die CDL Bayern lediglich eine Collage aus Bildern und signalisiert aus der Ferne ihre Unterstützung. Bei der CDL handelt es sich um eine Gruppe radikaler Abtreibungsgegner:innen innerhalb der Unionsparteien, die seit 1985 aktiv ist. Nach eigenen Angaben will sie „aktiv informierend und protestierend in Politik und Gesellschaft hinein(wirken)“. Dafür betreibt sie Lobbyarbeit und initiiert Kampagnen zu Themen wie Abtreibung, Organspende, Leihmutterschaft oder Sterbehilfe. Ihre Arbeit wird immer wieder von hochrangigen Unionspolitiker:innen gewürdigt. Jens Spahn, Philipp Amthor oder Peter Tauber signalisierten in der Vergangenheit öffentlich, dass sie die Ziele der CDL, zu denen unter anderem das Verbot von Schwangerschaftsabbruch gehört, unterstützen.

Auch wenn die „Christdemokraten für das Leben“ in Berlin nicht vertreten sind, so ist die Union es doch: durch den Münchner CSU-Politiker und Abtreibungsgegner Johannes Singhammer. Als erster Redner des Tages betritt er die Bühne vor dem Brandenburger Tor. Singhammer spricht vom Klimawandel, der Schöpfung und dass deren Krönung das menschliche Leben sei. „Ungeborene Kinder“ dürfe man nicht ausgrenzen, ruft er, denn „Kinder sind immer Teil der Natur und der Schöpfung, die geborenen und die ungeborenen“.

Der Münchner CSU-Bundestagsabgeordnete Johannes Singhammer spricht beim „Marsch für das Leben“. Foto: Lina Dahm

Und auch sein Parteikollege Thomas Jahn, Vorsitzender der CSU-Stadtratsfraktion in Kaufbeuren und stellvertretender Bundesvorsitzender der rechten „Werte Union“ schickt im Vorfeld ein Grußwort an die Teilnehmer:innen des Marsches und mobilisiert in den sozialen Netzwerken zum „Marsch für das Leben“. In den sozialen Netzwerken positioniert sich Jahn gegen reproduktive Rechte, teilt antifeministische Inhalte und hetzt gegen Geflüchtete.

Damit stellt er sich ideologisch in die Nähe der „Alternative für Deutschland“ (AfD), einer weiteren Partei, die sich mit den Zielen des „Marsch für das Leben“ identifiziert. Verstrickungen zwischen der AfD und der „Lebensschutz“-Bewegung sind nicht neu, beide kämpfen gegen das Recht auf Schwangerschaftsabbruch und fordern eine Verschärfung des Paragrafen 218 StGB, der den Schwangerschaftsabbruch in Deutschland regelt. Im Bayerischen Landtag ist es vor allem Jan Schiffers, AfD-Abgeordneter aus Oberfranken, der gegen Abtreibung mobil macht und versucht, mit parlamentarischen Anfragen Angriffspunkte zu identifizieren. Er ist in Berlin nicht mit von der Partie, dafür aber Rainer Rothfuß, Vorstandsmitglied im AfD-Kreisverband Oberallgäu/Kempten/Lindau. Auf Bundesebene sitzt mit Beatrix von Storch eine erklärte Abtreibungsgegnerin für die AfD im Deutschen Bundestag. Sie auch ist dieses Jahr wieder unter den Teilnehmenden des Marsches in Berlin.

Beistand von „ganz oben“

Der Blick auf die diesjährigen Grußworte – unter ihnen weitere bayerische Akteur:innen – offenbart die wesentlichen ideologischen Elemente der „Lebensschutz“-Bewegung. Abtreibungsgegner:innen setzen sich, wie es die Nürnberger Stadtratsfraktion der Ökologisch-Demokratischen Partei (ÖDP) in ihrem Grußwort ausdrückt, „für das Recht auf Leben von der Zeugung bis zum letzten Atemzug“, oder wie es Thomas Jahn von der „Werte Union“ beschreibt, für den „Schutz des menschlichen Lebens in allen Lagen“ ein. Ziel der unterliegenden Ideologie in unterschiedlichem Gewand ist immer die Verunmöglichmachung von Schwangerschaftsabbrüchen unabhängig der Umstände. Doch geht es lange nicht mehr nur um Abtreibung: Thematisch hat sich die Szene in den vergangenen Jahren breiter aufgestellt. Getrieben von der religiösen Überzeugung, dass nur Gott das Recht habe, über das menschliche Leben zu entscheiden, initiieren Abtreibungsgegner:innen inzwischen auch Kampagnen gegen Sterbehilfe, Pränatal- oder Präimplantationsdiagnostik, Leihmutterschaft oder Organspende.

Salbende Worte kommen auch aus der Amtskirche. Neben dem Auftritt des eingangs erwähnten Bischof Rudolf Voderholzer aus Regensburg senden zahlreiche Erzbischöfe und Bischöfe Grußworte an den „Marsch für das Leben“. Aus Bayern sind es Erzbischof Ludwig Schick aus Bamberg und Bischof Stefan Oster aus Passau. Und auch aus der „Lebensschutz“-Hochburg Augsburg kommt göttliche Unterstützung. Mit Gebetsgruppen, Fürbitten und Messen soll auch denjenigen, die nicht nach Berlin fahren, ermöglicht werden, den Schweigemarsch zu begleiten.

Aus dem Dunstkreis des bischöflichen Ordinariats in Augsburg stammt die seit 2019 aktive Initiative „Sundays for Life“. Auf ihrer Homepage gibt die Initiative an, dass sie sich „inspiriert von Fridays for Future“ für den „Schutz des Lebens von Anfang an“ einsetzen möchten. Das tun sie mit sonntäglichen Spaziergängen durch Augsburg und verstärkt in den sozialen Netzwerken, wo sie mit markigen Sprüchen und Schockbildern versuchen, den Diskurs zu ihren Gunsten zu prägen. So werden gynäkologische Behandlungsstühle als „Massenvernichtungswaffen“ bezeichnet und in Illustrationen Pistolen auf vermeintlich schwangere Menschen gerichtet. Am 28. September 2020 demonstriert die Gruppierung gegen eine Veranstaltung anlässlich des „International Safe Abortion Day“ in Augsburg und bezeichnet den Kampf für das Recht auf sicheren und legalen Schwangerschaftsabbruch als „menschenfeindlichen Extremismus“. Bei etablierteren Vereinen kommen die Provokationen, die das Ehepaar D. aus Augsburg äußert, gut an. Die Stiftung „Ja zum Leben“, die Anti-Abtreibungskampagnen finanziert, berichtet in ihrem Stiftungsbrief über die „hochmotivierte“ Initiative, die weiter expandieren will. Auch der rechtskatholische Nachrichtendienst „Catholic News Agency“ (CNA) berichtet ausführlich und wohlwollend über „Sundays for Life“.

Unterstützung erfahren die Abtreibungsgegner:innen von oberster Stelle: Der amtierende Papst Franziskus ist erklärter Abtreibungsgegner und bezeichnet Abtreibung als „Auftragsmord“. Und es ist eine breite Front, die sich gegen eine liberalere Abtreibungspolitik stemmt. In ihrem Kampf gegen emanzipatorische Kräfte stehen konservative Politiker:innen ideologisch und bisweilen körperlich Seite an Seite mit christlichen Fundamentalist:innen, radikalen Abtreibungsgegner:innen und der extremen Rechten.

Weihrauchgeschwängerte Luft und extrem rechte Ideologie

Diese breite Front stellt sich auch in Bayern gegen emanzipatorische, zivilgesellschaftliche Projekte und strebt sowohl eine andauernde gesellschaftliche Stigmatisierung von Menschen an, die abgetrieben haben, sowie die Tabuisierung des Themas an sich. Und sie scheinen Erfolg zu haben: Die Versorgungslage von den Betroffenen wird immer schlechter – auch im vermeintlich progressiven Deutschland. Bereits heute müssen Menschen, die sich für einen Schwangerschaftsabbruch entscheiden, häufig mehrere hundert Kilometer fahren oder lange Wartezeiten in Kauf nehmen, da es immer weniger Arzt:innen gibt, die Abbrüche durchführen. In Niederbayern und der Oberpfalz ist die Situation derzeit besonders dramatisch.

Kundgebung beim „Marsch für das Leben“. Foto: Lina Dahm

Das Bild des Flöte spielenden Fundamentalisten beim „Marsch für das Leben“ offenbart eines der zentralen Probleme im Kampf um reproduktive und sexuelle Rechte: Christliche Fundamentalist:innen, ihre Prozessionen, ihre Gebete und Gesänge wirken auf eine säkularisierte Gesellschaft eher befremdlich als bedrohlich. Und auch das hippe Auftreten junger Aktivist*innen von „Pro Life Europe“ oder der „Jugend für das Leben“ verschleiert, mit welch menschenverachtender Ideologie diese teilweise sehr jungen Menschen ausgestattet sind. Der Zugriff auf und die Kontrolle über den reproduktionsfähigen Körper ist einer, der seit jeher von der Rechten bzw. der extremen Rechten geführt wird. Für konservative, christlich-fundamentalistische und (extrem) rechte, völkische Akteur:innen ist der gebärfähige Körper ist ein zentrales Kampf- und Aktionsfeld und die selbst ernannte „Lebensschutz“-Bewegung singt mit im vielstimmigen Chor des Antifeminismus.

Nicht wenige der Sänger:innen kommen aus Bayern, was sich in einer kaum überblickbaren Menge an Veranstaltungen, Kundgebungen und Aufmärschen niederschlägt. Bis Anfang Oktober 2020 zählen Beobachter:innen der Szene allein in München knapp 20 antifeministische Veranstaltungen und für März 2021 stehen die Abtreibungsgegner:innen bereits in den Startlöchern – dann soll der erste „Marsch für das Leben“ in München stattfinden.

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