Verurteilungen und Freisprüche
Am 8. Juni 2011 verkündete die Große Jugendkammer des Landgerichts Regensburg nach sieben Verhandlungstagen die Urteile im „Picasso-Prozess“: Lediglich der Hauptangeklagte Daniel Schm. wurde für den Überfall wegen gefährlicher Körperverletzung verurteilt: Wegen weiterer Straftaten wurde er insgesamt zu sechseinhalb Jahren Freiheitsstrafe mit anschließender Führungsaufsicht verurteilt. Vier Angeklagte wurden vom Vorwurf, den „Picasso“-Barkeeper überfallen zu haben, freigesprochen. Gegen den sechsten Angeklagte, Constantin S., gegen den im gleichen Prozess mitverhandelt wurde, war kein Tatvorwurf in Sachen „Picasso“-Überfall erhoben worden, ihn erwarten nun aufgrund seiner anderen Straftaten (s. o.) zehn Monate Freiheitsstrafe. Ein Jahr Jugendstrafe steht dennoch dem jüngsten der Angeklagten bevor, dem 20-jährigen Robert Scha. (s. o.). Bei Manfred B. ergab sich trotz des Teilfreispruchs eine Gesamtstrafe von zwei Jahren und neun Monaten Haft. Bei keinem der Verurteilten konnte die Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt werden. Nur für Jens K. und Rainer E. endete das „Picasso“-Verfahren mit Freispruch.
Dass es, was den Überfall auf den „Picasso“-Barkeeper angeht, vier Freisprüche gab, lag letztlich daran, dass es dem Gericht aufgrund der sich teilweise erheblich widersprechenden Zeugenaussagen nicht mehr möglich schien, den tatsächlichen Verlauf des Übergriffs zu rekonstruieren. Klar war, dass mehrere Angreifer geschlagen, getreten und mit Gegenständen geworfen haben; Daniel Schm. blieb jedoch der Einzige, dem eine konkrete Tatbeteiligung nachgewiesen wurde. Dass an der Tür des gegenüber dem „Picasso“ gelegenen Lokals, in das sich der Barkeeper geflüchtet hatte, daktyloskopisch Spuren von Manfred B. nachgewiesen wurden, spielte im Urteil keine Rolle. Das Gericht war auch nicht weiter auf die Aussage des Geschädigten eingegangen, der zufolge nicht nur die fünf Angeklagten ihn angegriffen hätten, sondern darüber hinaus eine oder zwei weitere Person(en).
Der politische Hintergrund wird ausgeblendet
Oberstaatsanwalt Edgar Zach hatte bei allen Angeklagten für wesentlich höhere Strafmaße plädiert und die politische Motivation der Taten erwähnt. Im Urteil, betonte jedoch der Vorsitzende Richter Carl Pfeiffer, seien lediglich Straftaten zu beurteilen gewesen und nicht politische Einstellungen. Dass die begangenen Straftaten recht offensichtlich aus der extrem rechten politischen Einstellung der Beschuldigten resultieren, wurde dabei geflissentlich übersehen.
Noch während des Prozesses zeigte sich der Angeklagte S. auf seiner Facebookpräsenz mit entblößtem Oberkörper, so dass seine Hitler-, SS-Totenkopf- und Hakenkreuztattoos deutlich sichtbar sind. Dennoch wurde S. eine gute Sozialprognose bescheinigt. Das Gericht folgte der Erklärung seines Anwalts, S. habe bereits geäußert, Regensburg und die Kreise, in denen er dort verkehre, hinter sich zu lassen und nach Köln zu gehen. Als „Ausstieg“ ist dieser Umzug jedoch sicher nicht zu werten: In Köln wohnt und arbeitet bereits S.‘ „Kamerad“ Alexander H.
Daniel Schm. unterschrieb Briefe aus der U-Haft mit den neonazistischen Zahlencodes „14/88“ und steht seit März dieses Jahres auf der Liste der von der neonazistischen „Hilfsorganisation für nationale politische Gefangene und deren Angehörige e.V.“ (HNG) betreuten Gefangenen. Auch der Angeklagte Manfred B. wurde während seiner letzten Haft von November 2009 bis Mai 2010 von der HNG betreut.
Die Angeklagten traten gegenüber Medienvertreter_innen beim Prozess mit dem in der Szene verbreiteten Hass auf. So wurde Journalist_innen beispielsweise vor die Füße gespuckt und körperliche Gewalt angedroht.
Der Prozess und die Regensburger Neonaziszene
Auffällig war, dass der Prozess zwar durchweg gut besucht war, außer von nahen Angehörigen der Angeklagten jedoch kaum von Sympathisant_innen aus der extremen Rechten. Dies könnte bedeuten, dass die Angeklagten keinen oder wenig Rückhalt in der rechten Szene Regensburgs und Umgebung haben, könnte aber ebenso gut ein Hinweis darauf sein, dass es tatsächlich weitere Tatbeteiligte gab, die vor Gericht von Zeug_innen eventuell hätten erkannt werden können.
An drei Prozesstagen besuchte ein Regensburger Neonazi den Prozess, der seine rechte Einstellung durch entsprechende Aufnäher auf seiner Bomberjacke zeigte: eine schwarz-weiß-rote Fahne, die Zahlencodes „14/88“ und ein „White-Power“-Zeichen. Dass dieser Prozessbesucher sich bei Erscheinen des Gerichts regelmäßig nicht von seinem Platz erhob, war dem Gericht entgangen. Laut Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) §178 könnte dies wegen ungebührlichen Verhaltens strafrechtlich verfolgt werden und ein Ordnungsgeld oder eine Ordnungshaft bis zu einer Woche nach sich ziehen.
Unbeantwortete Fragen
Nach sieben Verhandlungstagen bleibt eine ganze Reihe an Fragen unbeantwortet: Wie konnte es sein, dass der Haupttäter Daniel Schm. nach dem Überfall in der Bar „Picasso“ nicht in Untersuchungshaft kam und somit eine weitere schwere Körperverletzung begehen konnte? Wieso hat das Gericht die Aussagen mehrerer Zeugen, es hätten sich mindestens sechs Personen am Überfall beteiligt, nicht weiter verfolgt? Weshalb wurde eine Zeug_innenaussage, Jens K. habe einen Barhocker in Richtung des Barkeepers geworfen, ignoriert? Warum ist Manfred B. bezüglich des Anklagepunktes des Überfalls auf den Barkeeper freigesprochen worden – obwohl laut einem Beamten der Kriminalpolizei im Zeugenstand daktyloskopische Spuren B.s an der Tür des Lokals gefunden wurden, in welches sich das Opfer des Überfalles geflüchtet hatte und mehrere Zeug_innen aussagten, dass mindestens zwei Personen gegen die Tür des Fluchtortes getreten hätten? Warum hat das Gericht in dem Überfall keine vorsätzliche Tat gesehen, obwohl Daniel Schm. dem Barkeeper mit den Worten „Da bist Du ja, jetzt bist Du dran!“ gedroht hatte? Wieso ist Robert Scha. trotz der Tatsache, dass er in der Arrestzelle Hakenkreuze und SS-Runen einritzte, hierfür nur wegen Sachbeschädigung und nicht wegen des Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen verurteilt worden?
Die Angeklagten Constantin S. und Robert Scha. haben Rechtsmittel gegen die Urteile eingelegt, die restlichen Urteile sind rechtskräftig. Dass die offen gebliebenen Fragen in der Verhandlung der nächsten Instanz thematisiert werden, erscheint unwahrscheinlich. So bleibt die traurige Gewissheit, dass aufgrund von Schwierigkeiten bei der Rekonstruktion des genauen Ablaufes des Überfalles mehrere neonazistische Täter für ihre Beteiligung nicht bestraft beziehungsweise gar nicht erst angeklagt oder vor Gericht gestellt wurden. Diese Menschen stellen aufgrund ihres extrem gewalttätigen Verhaltens und der verinnerlichen menschenverachtenden Ideologie eine Gefahr für die Gesellschaft dar. Es bleibt abzuwarten, wann sie wieder zuschlagen.
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