München. Am Vormittag haben Polizeibeamt_innen (im Rahmen von Ermittlungen wegen sogenannter „Unsterblichen“-Aktionen baden-württembergischer Neonazis) in Esslingen, Göppingen und Ulm Hausdurchsuchungen in den Kreisen der „Autonomen Nationalisten Göppingen“ durchgeführt. Die „AN Göppingen“ sind gut mit dem bayernweiten Kameradschaftsdachverband „Freies Netz Süd“ (FNS) vernetzt, die Neonazis von der Schwäbischen Alb nahmen in der letzten Zeit unter anderem am 30. März 2013 an FNS-Kundgebungen in Schwabmünchen und Augsburg teil.
Bayerische Neonazis reagieren mit einer Protestkundgebung am Abend in München, die sie bis zum späten Nachmittag nicht bei den zuständigen Behörden angemeldet haben. Von 20.30 Uhr bis 21.30 Uhr versammeln sich vierzehn Neonazis aus dem FNS und aus der NPD an der Prielmayerstraße vor dem Justizpalast. Vor bzw. über sich breiten sie die bekannten „Freies Netz Süd“-Transparente „Wir kämpfen für euch – Kameradschaft München – Freies Netz Süd“ und „Für das freie Wort – Kameradschaft München – Freies Netz Süd“ aus. Die anwesende Polizei lässt bei der angeblich „spontanen“ Aktion die Verwendung von mehreren brennenden Wachsfackeln durch die Neonazis zu.
Vor Ort beteiligen sich u. a. der oberpfälzische FNS-Kader Robin Siener, der führende niederbayerische FNS-Aktivist Mike Edling, Neonazis aus dem „Aktionsbündnis Oberbayern“ und vom „Nationalen Widerstand Mühldorf“ sowie die Münchner NPD-Kandidatin und „Ring Nationaler Frauen“ (RNF)-Funktionärin Renate Werlberger. Die Aufgabe des „Kameradschaft München“-Anführer Karl-Heinz Statzberger beschränkt sich heute auf das Bedrängen eines Medienvertreters. FNS-Aktions-Anmelder Roland Wuttke und das frühere NPD-Bezirksvorstandsmitglied Marcel Burucker beschallen mit auf Wuttkes Fahrzeug gestellten Hornlautsprechern die Kreuzung in Richtung Stachus.
Roland Wuttke, häufiger Autor der NPD-Parteizeitung „Deutsche Stimme“, hält eine lange Rede über die „Illusion von der Rechtsstaatlichkeit“ in der BRD, wo „Politprozesse (…) inszeniert“ und „über 90 Jährige vor Gericht gezerrt“ würden. Dann wendet er sich gegen die Anwendung der Paragraphen 86a (Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen) und 130 (Volksverhetzung) des Strafgesetzbuches gegen „volkstreue Deutsche“. Wuttke nennt dies „Repressionen gegen Regimekritiker“ und solidarisiert sich in seiner Rede auch mit dem Holocaustleugner Horst Mahler:
„Der Bekannteste der Häftlinge ist der Rechtsanwalt Horst Mahler, er sitzt 12 Jahre wegen Volksverhetzung in Brandenburg an der Havel (…) er hat etwas geäußert, was diese Herren des Regimes nicht gerne hören“.
Wuttke verweist daneben u. a. auf Gottfried Küssel, den führenden Wiener Neonazikader, der wegen Betreibens der illegalen Homepage „Alpen Donau Info“ zu einer Haftstrafe verurteilt wurde. Zweimal nennt Wuttke Vor- und Zunamen der für Küssels Inhaftierung verantwortlichen Richterin, denn „man sollte sich den Namen merken“. Wuttke führt außerdem den extrem rechten Verleger Wigbert Grabert aus Tübingen an, der jüngst für volksverhetzende Passagen in einem seiner Bücher verurteilt wurde. Auch hier wiederholt Wuttke zweimal deutlich den Namen des verantwortlichen Richters am Amtsgericht Tübingen und droht:
„Man sollte sich genau diese Namen dieser Herrschaften merken, denn vielleicht bekommen wir ja doch wieder einen Rechtsstaat, in dem wir uns dann mit diesen Herrschaften zu beschäftigen haben“.
Auch Axel Möller (Stralsund), der als Betreiber der illegalen (Wuttke: „regimekritischen“) Altermedia Deutschland-Webseite eine Haftstrafe verbüßt sowie der Düsseldorfer Neonazi „Sven Skoda und weitere Kameraden des Aktionsbüros Rheinland“, die wegen des Verdachts der Bildung einer kriminellen Vereinigung in Untersuchungshaft sitzen, sind Teil von Wuttkes Rede. In Koblenz würde gegen letztere, behauptet Wuttke, „unter Richter Hans Georg Göttgen (…) ein kafkaesker Pseudoprozess geführt, (…) ein schäbiges Schauspiel“.
„Immer mehr Menschen erkennen, dass es hier keine Demokratie mehr gibt, (…) sie könnten leicht recht haben“ schlussfolgert Wuttke und spricht von „Sondergesetzen in der BRD“ und „rechtsbrechende(n) Staatsanwälte(n) in Göttingen“ (richtig wäre: Göppingen), die „Regimekritiker verfolgen“ würden. Über den früheren bayerischen Innenminister Beckstein (Zitat Wuttke: „Wir erinnern uns noch sehr gut an diesen sagenhaften Dr. Günther Beckstein (…) Wir wissen jetzt, dass Beckstein offenbar einem kriminellen Netzwerk angehört“) schwenkt Wuttke über zu „Staatsterrorismus“, „NSU“ und „Gladio“ und raunt schließlich verschwörungstheoretisch über den vorsitzenden Richter im ersten NSU-Prozess in München: „Wieviel Druck bekommt eigentlich der Herr Manfred Götzl?“
Auch Ralf Wohlleben erwähnt Roland Wuttke in seiner Rede. Als er auf den wegen „Beihilfe zum Mord in neun Fällen“ Angeklagten im derzeit in München stattfindenden ersten NSU-Prozess zu sprechen kommt, sagt Wuttke zu diesem Verfahren in verschwörungsideologischem Duktus: „‚erfundener NSU‘-Prozess“.
Am Schluss seiner Rede kündigt Roland Wuttke eine „musikalische Auflockerung“ an, woraufhin auf der Kundgebung der Song „Löwenherz“ der Neonaziband „Division Germania“ abgespielt wird. „Division Germania“ ist ein Projekt des Mönchengladbacher Neonazis und ehemaligen „Kameradschaft Aachener Land“-Aktivisten Andreas Koroschetz, drei Alben seiner Kapelle hat die BPJM indiziert. Auf der Kundgebung ist unter anderem folgender gegrölter Text zu hören:
„Du trägst in deinem Leibe das Herz am rechten Fleck. Du weichst keinen Schritt zurück – gehst drei nach vorn. Deinem Ziel bist du verschworen. Löwenherz – zu großen Taten auserkoren! Keinen Schritt zurück – nur drei nach vorn. Deinem Ziel bist du verschworen. Löwenherz – wer nicht kämpft, hat schon verloren! Wenn alle feige bangen, begibst du dich zur Tat. Du Heros unter Schlangen bist völkischer Soldat. Für dich gilt nur das ‚muss‘ und nie das zage ‚kann‘. Zurück weicht nur der halbe – doch nie der ganze Mann!“
Der FNS-Aktivist Martin Bissinger, der auch bei den letzten FNS-Aktionen meistens ans Mikrofon trat, tritt anschließend ebenfalls auf der Kundgebung als Redner auf. Bissingers zumeist mit überschlagener Stimme gebrüllter Text an die „liebe(n) Münchnerinnen und Münchner, liebe(n) Landsleute“ hat es in sich:
„Dieses kranke System versucht durch ungerechtfertigte Durchsuchungen (…) unsere Weltanschauung und unsere großartige Idee, für die wir einstehen, zu entkräften“ heißt es darin und „Die Angriffe auf Nationale Sozialisten von Polizei und Justiz sind nur ein kleiner Teil einer großen Strategie, einer Strategie dieses kaputten Staates, des Krieges gegen unsere Weltanschauung“.
Presse, Rundfunk und Fernsehen werden von Bissinger als „gleichgeschaltete Besatzermedien“ diffamiert und auch Polizist_innen kommen nicht besser weg; diese seien, so Martin Bissinger, „BRD-Söldner, auch Polizei genannt“. Bevor er „Widerstand gegen dieses verbrecherische Unrechtssystem“ ankündigt, gibt der Neonazi noch eine Kostprobe des beim FNS vorhandenen völkischen Rassismus:
„Wenn man heute durch München oder durch irgendeine andere deutsche Stadt geht, springt einem die Abartigkeit doch schon ins Gesicht: heruntergekommene Gegenden, Massen von Ausländern.“
Mit lauten Parolen wie „Halt’s Maul!“ und „Nationalismus raus aus den Köpfen“ können die eingetroffenen zwei Dutzend Antifaschist_innen solche Hetze mittlerweile übertönen. Wuttke beendet dann zwar die Kundgebung, die Neonazis machen jedoch noch einige Zeit weiter: angeführt u. a. von Binnger und Edling brüllen die Versammelten noch Parolen: „Frei Sozial und National“, „Trotz Verbot kriegt ihr uns nicht klein“ und „Nationaler Sozialismus, jetzt, jetzt, jetzt!“.