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Demjanjuk-Prozess: „Big Show“ statt Gerechtigkeit?

 

Die Nichtverfolgung der NS-Täter

Nicht alles war jedoch so krude und abstoßend in Buschs Befangenheitsbegründung. Demjanjuks Rechtsanwalt verwies auch auf die skandalöse Nichtverfolgung der NS-Verbrecher in der Bundesrepublik Deutschland in den letzten 60 Jahren. Die Frage stand natürlich im Raum: Warum nur Demjanjuk, warum erst jetzt ein Prozess? Erich Lachmann, der von 1942 an als „Unterführer“ die Trawniki, die „Hilfswilligen“ in Sobibor befehligte, sowie vier weitere Angeklagte wurden beispielsweise im ersten Sobibor-Prozess freigesprochen. Weil sie angeblich nur widerstrebend an den Morden mitgewirkt hätten, bescheinigte ihnen 1966 das Landgericht Hagen eine „vermeintliche Nötigungsnotstandslage“. Auch Karl Streibel, den Leiter des SS-Lagers Trawniki, nach dem später die Schergen der Deutschen benannt wurden, sprach das Hamburger Landgericht 1976 frei: Man habe ihm nicht beweisen können, dass er wusste, wofür er die „Trawniki“ ausgebildet habe. Die Hinweise der USA an die Bundesrepublik in den 1980er und -90er Jahren, sie solle Auslieferungsanträge gegen hunderte SS-Helfer stellen, stießen auf keinerlei Interesse. Alle blieben unbestraft, einige leben heute noch unbehelligt, auch in Deutschland.

Gerade in München hatten NS-Täter bislang in der Mehrzahl wenig zu befürchten. Bis zuletzt wurden viele Ermittlungsverfahren gegen NS-Massenmörder eingestellt oder gar nicht erst begonnen. In einer Studie der Rechtshistorikerin Kerstin Freudiger („Die juristische Aufarbeitung von NS-Verbrechen“, Verlag Mohr Siebeck, Tübingen) wurde im Jahr 2002 nachgewiesen, dass es gar eine besondere „Münchner Variante der extremen Überbewertung der Befehlssituation“ gab, nach der dem deutschen Vernichtungspersonal von den Münchner Behörden generell das Fehlen eines Täterwillens attestiert worden war. Gegenüber dem a.i.d.a.-Archiv wies Efraim Zuroff in diesem Zusammenhang ausdrücklich nocheinmal auf die veröffentlichte Liste der gesuchten NS-Kriegsverbrecher seines Simon-Wiesenthal-Centers in Jerusalem hin. Mit dem „Gesuchten“ Klaas Faber, so Zuroff, sei dort ganz bewußt ein mutmaßlicher Kriegsverbrecher aufgeführt, dessen Wohnort (Ingolstadt) längst öffentlich bekannt ist. Die Münchner Staatsanwaltschaft, die die Ermordung niederländischer Widerstandskämpfer durch Faber lediglich als verjährten „Totschlag“ einstuft, hat hier seit Jahren eine Strafverfolgung verhindert, das bayerische Justizministerium hat dabei zugesehen.

Auch der nun weltweit beachtete Prozess gegen Iwan Nikolai („John“) Demjanjuk schien den Münchner Gerichtsbehörden nie besonders wichtig zu sein. Der Bundesgerichtshof hatte die Klageübernahme in München gar erst gegen den Willen der dortigen Staatsanwaltschaft erzwingen müssen. Heute ließ man am Gerichtsgebäude in der Sandstraße Überlebende der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik und NebenklägerInnen aus dem Ausland zum Teil stundenlang in der Kälte vor verschlossenen Türen warten.

Der Prozess wird am Dienstag mit der Verlesung der Anklageschrift fortgesetzt.

 

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