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25. Juli 1950

Neustadt an der Donau (Lkr. Kelheim). Der 23-jährige Scherenschleifer Paul Kirsch wird gegen 19.30 Uhr vor dem Gasthof Attenberger von dem Polizisten Johann A. erschossen.

Kirsch kam aus der Tschechoslowakei, war verheiratet, Rom. Er hatte mehrere Konzentrationslager überlebt, darunter Auschwitz.

Der Gastwirt hatte die Polizei gerufen, weil in seinem Lokal eine Gruppe „Landfahrer“ zechen würde. Es kommt zu einem Handgemenge der Gruppe mit der eingetroffenen Polizei. Ein Wachtmeister der Landpolizei tötet dabei Kirsch durch einen Kopfschuss. Anschließend wird von der Polizei schnell die Behauptung herausgegeben, Kirsch hätte einem Polizisten einen Karabiner entrissen, durchgeladen und auf einen anderen Polizisten gezielt gehabt. Der „Altmühlbote“ schreibt: „Handgemenge fordert Todesopfer“.

Die Großnichte des Erschossenen verweist im Jahr 2020 jedoch darauf, dass die Gruppe nicht, wie ebenfalls behauptet, betrunken gewesen, sondern beim Kegeln in Streit geraten sei. Kirsch habe zudem dieser Gruppe gar nicht angehört. Als ein Polizist eine Waffe gezogen hätte, hätte Kirsch sie ihm zu entreißen versucht.

Kirsch wird am 27. Juli 1950 in Neustadt beerdigt. Ob gegen den Polizisten ermittelt wurde, ist unbekannt. Zwei Roma, ein Artist und ein Scherenschleifer, werden später zu fünf beziehungsweise drei Monaten Gefängnis wegen „Volltrunkenheit“ verurteilt. Ein dritter Angeklagter wird mangels Beweisen für eine Teilnahme an der „Rauferei“ freigesprochen.

Ingrid Müller-Münch, die diese Tat und ähnliche Fälle recherchiert hat, schreibt: „Die Jahre 1945 bis 1980, also der Zeitrahmen meiner Recherche, waren geprägt von einem unverhohlenen Antiziganismus. Polizeiliche Schikanen gegenüber Sinti und Roma waren an der Tagesordnung.“ Und: „Zur zeitgeschichtlichen Einordnung gehört das weitgehende Fortwirken der für den Völkermord an Sinti und Roma Verantwortlichen, sei es in Polizeibehörden, in kommunalen Verwaltungen, in der Justiz oder in Ministerien“. Die polizeilichen Todesschüsse auf Sinti*zze und Rom*nja in den Nachkriegsjahren seien „Zeugnis für Antiziganismus jener Zeit“, auch „wenn die Antwort im Detail erst bei genauerem Hinsehen ersichtlich wird und sich dieser Rückschluss nur im Kontext dessen ergibt, was vorher und nachher geschah und wie der Zeitgeist das Geschehen prägte“.

Quelle: Ingrid Müller-Münch: Tödliche Polizeigewalt gegenüber Sinti und Roma 1945 bis 1980. Eine journalistische Recherche im Auftrag der „Unabhängigen Kommission Antiziganismus“. Online unter: http://www.mueller-muench-web.de/2021/08/polizeigewalt-gegenueber-sinti-und-roma-in-der-nachkriegszeit-rassistisch-oder-ganz-normal/

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