Kempten. Kurz vor 2.45 Uhr dringen bislang unbekannte Täter_innen in ein Mehrfamilienhaus in der Füssener Straße ein. Im hölzernen Treppenhaus verschütten sie vor zwei Wohnungen eine brennbare Flüssigkeit und zünden diese an. Der fünfjährige Sohn der Familie S. erleidet im Kinderzimmer eine Rauchgasvergiftung und stirbt daran wenig später im Krankenhaus. Fünf weitere Bewohner_innen und ein Feuerwehrmann werden schwer verletzt.
Nach dem Anschlag geht Anfang Dezember 1990 bei der „Allgäuer Zeitung“ per Post ein Bekennerbrief einer „Anti Kanaken Front Kempten“ ein, der in Runenschrift geschrieben und mit einem Hakenkreuz versehen ist. Der „von uns verübte, sehr erfolgreiche Anschlag auf das von Türken bewohnte Haus in der Füssener Straße war erst der Anfang“ heißt es darin und „wir werden nicht ruhen, bis Kempten von allen undeutschen Kreaturen befreit ist.“ Kempten solle die „erste Stadt sein“, die „nicht von Schwulen, Linken, Ausländern und anderen Schweinen geplagt“ werde.
In der Öffentlichkeit ist dieses Schreiben damals so gut wie kein Thema. In einem Artikel des Berliner „Tagesspiegels“ heißt es im November 2020 dazu rückblickend : „Mitverantwortlich dafür war offenbar auch die Strategie des damaligen Kemptener Polizeipräsidenten, die Taten, die Motive und das Ausmaß der rassistischen Gewalt von Neonazi-Skinheads nicht zu benennen.“ Ebenfalls erst 30 Jahre später erfährt die Familie S. durch Recherchen von „Allgäu rechtsaußen“ und „Zeit online“ von dem möglichen Beweisstück für einen mutmaßlichen neonazistischen Hintergrund des Brandanschlags.
Obwohl in den Wochen vor und nach der Tat weitere schwere Brandanschläge in Kaufbeuren, Immenstadt und Kempten verübt werden, ignoriert die Polizei damals das neonazistische Schreiben und sucht Täter_in bzw. Täter_innen in erster Linie unter den Hausbewohner_innen. Im August 1992 werden die Ermitlungen, die nur wegen des Vorwurfs besonders schwerer Brandstiftung mit Todesfolge (und nicht wegen eines vorsätzlichen Tötungsdeliktes) geführt werden, ergebnislos eingestellt. Nur aufgrund der antifaschistischen und journalistischen Recherchen nimmt ab Oktober 2020 eine Sonderkommission des Polizeipräsidiums Schwaben Süd/West die Ermittlungen (nun wg. Mord) wieder auf.
Quellen: Artikel von Heike Kleffner auf zeit.de (4. Oktober 2020), von Sebastian Lipp auf „Allgäu rechtsaußen“ (6. November 2020), von Heike Kleffner und Frank Jansen im „Tagesspiegel“ (18. November 2020) und von Bernd Siegler in der „taz“ (1. Februar 1992) sowie Pressemeldung der Generalstaatsanwaltschaft München und des Polizeipräsidiums Schwaben Süd/West (27. November 2020), schriftliche Anfrage von Florian Ritter (SPD) im bayerischen Landtag (23. Oktober 2020) und Anfrage zum Plenum von Cemal Bozoğlu (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) im bayerischen Landtag (24. November 2020).