Mit unserem gemeinsamen Projekt NSU-Watch blicken wir zurück auf über fünf Jahre erster NSU-Prozess, auf 438 Verhandlungstage.
Von NSU-Watch
Wir haben jeden einzelnen Tag davon im Saal A101 gesessen und das aufgeschrieben, was wir gehört und gesehen haben. Trotz eines abstoßenden Hypes um die Hauptangeklagte haben wir in dieser Zeit nicht vergessen, worum es in diesem Gerichtsverfahren ging und gehen sollte:
Es geht um eine rechte Anschlagsserie mit dem Ziel, Menschen zu vertreiben und unsere Gesellschaft zu verändern.
Es geht um zehn Morde, drei Sprengstoffanschläge, 15 Banküberfälle, begangen von Neonazis.
Es geht um rechten Terror.
Es geht um Behörden, die aus ihrem eigenen Rassismus und eigenem Kalkül heraus das Morden nicht beendeten.
Und es ging und geht um eine Gesellschaft, die die Angehörigen und Überlebenden nicht hörte, als diese schon lange vor 2011 auf eine mögliches rechtes Motiv aufmerksam machten.
Eine Gesellschaft, die mit ihrem Rassismus den NSU mitgetragen hat.
Wir haben uns mit unserer Arbeit bemüht, immer genauer zu bestimmen, was der NSU-Komplex ist. Das werden wir auch weiterhin tun.
Als wir uns 2012 dazu entschlossen, den Prozess und die gesamte Aufklärung des NSU-Komplexes als antifaschistisches Bündnis kritisch zu begleiten, waren unsere Hoffnungen an diesen ersten NSU-Prozess bereits gedämpft. Alle Aufklärungserwartungen sollten scheinbar von diesem Verfahren erfüllt werden, gesellschaftliche Versöhnung mit Urteilsverkündung inklusive. Wir haben uns immer darauf eingestellt, dass die Aufklärung in diesem großen Komplex mit diesem ersten Prozess nicht abgeschlossen werden kann. Dass wir heute nur so wenig über den NSU-Komplex wissen, ist auch ein Ausdruck der Gesellschaft, in der der NSU so ungestört agieren konnte.
Trotzdem war es richtig und wichtig, Aufmerksamkeit auf diesen Prozess zu lenken und ihn zu begleiten. Dieser erste NSU-Prozess konnte trotz aller Widrigkeiten immer wieder zu einem Ort gemacht werden, an dem die Rolle des Staates und des gesamtgesellschaftlichen Rassismus im NSU-Komplex deutlich gemacht werden konnte. Dies war vor allem der unermüdlichen Arbeit der Nebenklage zu verdanken.
Jedoch: Ein anderes Verfahren wäre möglich gewesen. Es hätte auch ein Verfahren sein können, in dem die Fragen der Angehörigen und Überlebenden von Anfang an im Vordergrund gestanden hätten und ihre Forderungen und Geschichten nicht leise gedreht worden wären. Dies nicht zu tun, war eine bewusste Entscheidung des Senats. Und so wissen die Angehörigen und Überlebenden heute immer noch nicht, ob ihnen nicht die lokalen HelferInnen des NSU tagtäglich über den Weg laufen. Sie und wir alle wissen nicht, warum die Behörden das Morden nicht gestoppt haben und warum manche bis heute eine Aufklärung so hartnäckig verhindern. Diese Fragen waren im Prozess nach der Anfangsphase, in der noch vieles möglich schien, nicht mehr von Interesse. Diese Fragen brennen uns weiterhin unter den Nägeln und wir werden nicht aufhören, um die Antworten zu kämpfen.
Wir schauen heute auch in die Zukunft.
Wir lassen diesen Prozess, diesen Ort, der allzu oft ein Ort der TäterInnen war, hinter uns. Die Zukunft gehört den Angehörigen und Überlebenden, ihren Fragen, ihren Wünschen. Wir haben wieder einmal gemeinsam erkennen müssen, wie leer Aufklärungsversprechen sein können und wie hoffnungsvolle Erwartungen an diesen Prozess enttäuscht werden. Wir müssen und werden die Aufklärung weiterhin selbst in die Hand nehmen. Vielleicht werden wir nie alles wissen, was den NSU-Komplex ausmacht. Aber wir können unser möglichstes tun, um Lücken zu füllen. Das heißt für uns: Kein Schlussstrich.
In den Jahren seit 2011, seitdem wir das Kürzel NSU mit Neonazis verbinden, ist diese Gesellschaft eine andere geworden. Wir erleben einen massiven Rechtsruck. Eine rassistische Mobilisierung, die gar nicht möglich gewesen wäre, wenn die Gesellschaft andere Lehren aus dem NSU-Komplex gezogen hätte, als den Verfassungsschutz mit mehr Mitteln auszustatten. Denn eine echte Aufarbeitung und Aufklärung des NSU-Komplexes würde auch die Zustände, die dies ermöglicht haben, aus der Welt schaffen. Von staatlichen Stellen kann dies wohl nicht erwartet werden. Doch wir hier sollten dieses Ziel nicht aus den Augen verlieren. Denn wir lernen aus dem NSU-Komplex.
Darum wollen wir, dass die Betroffenen und Angehörigen als Hauptzeug_innen des Geschehenen verstanden werden – wie es unter anderem Ibrahim Arslan, Überlebender des Brandanschlags in Mölln, schon lange fordert.
Wir wollen dem Rechtsruck der Gesellschaft nicht einfach zusehen. Wir werden ihm entschlossen entgegentreten. Wo auch immer Rassismus, Antisemitismus, Sexismus oder Homo- und Transfeindlichkeit sich zeigen, da sollte unser Widerspruch und Widerstand nicht fern sein.
Wir wissen, wie rechter Terror funktioniert und wie ernst diese Bedrohung zu nehmen ist. Wir werden unsere eigenen Analysen ernster nehmen und mit unseren Recherchen versuchen, aufzudecken, was passiert ist und was geplant ist. Wir wollen den Rechten und ihrer Gewalt wo wir können in den Arm fallen.
Dazu gehört vor allem, dass wir nicht vergessen.
Wir werden nicht vergessen, dass für die meisten, die Verantwortung im NSU-Komplex tragen, keine Konsequenzen folgten. Aber wir wissen von vielen, wer sie sind und bei anderen werden wir dies noch herausfinden.
Wir vergessen nicht, was wir in diesen Jahren seit November 2011 gelernt, gesehen und gehört haben. Wir lassen uns von leeren Worthülsen der Täter_innen nicht dumm machen und glauben ihnen kein Wort.
Aber vor allem anderen werden wir die Opfer des NSU und die Überlebenden nicht vergessen. Wir werden an sie erinnern und den Toten gedenken. Auch das bedeutet für uns: Kein Schlussstrich.
[Redebeitrag auf der Kundgebung und Demonstration „Kein Schlussstrich“ in München. Anlässlich der Urteilsverkündung im ersten NSU-Prozess, am 11. Juli 2018.]