Der folgende Artikel ist im September 2002 in der Ausgabe #78 der antifaschistischen Zeitschrift Der Rechte Rand erschienen.
Strukturelle Kontinuität
Internationale Demo zum Gedenken an Rudolf Heß
Rund 2500 Neonazis versammelten sich am 15. Todestag des Hitler-Stellvertreters Rudolf Heß zu einem Gedenkmarsch in der bayerischen Kleinstadt Wunsiedel. Die Beteiligung von Neonazis aus ganz Europa hat gezeigt, dass der Rudolf-Heß-Marsch als Bezugspunkt eines internationalen neonazistischen Netzwerkes in über zehn Jahren nicht an Bedeutung verloren hat.
Selbst große Neonazi-Aufmärsche der letzten zehn Jahre, wie etwa am 1. März 1997 in München gegen die Ausstellung „Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941-44“ zu dem rund 5.000 Neonazis gekommen waren, konnten kein derartiges Spektrum mobilisieren: Rund 2.500 Neonazis aus Deutschland, Österreich, Schweiz, Italien, Spanien, Belgien, Holland, Dänemark, Schweden, Polen, Litauen, Tschechien und Kroatien waren zum Gedenkmarsch zum 15. Todestag von Rudolf Heß erschienen und unterstützten Anmelder Jürgen Rieger bei seinem Versuch, Wunsiedel erneut als Wallfahrtsort für Faschisten in ganz Europa zu etablieren.
Wie schon im Jahr zuvor hatte der Bayerische Verwaltungsgerichtshof (VGH), der in Auslegung einer Reihe von Grundsatzentscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes die städtischen und erstinstanzlichen Verbote wegen Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung revidierte, die Neonazi-Demonstration ermöglicht. Die Veranstaltung stelle – so der VGH – lediglich eine beabsichtigte Meinungsäußerung, jedoch „noch keine strafbare Verherrlichung des Nationalsozialismus“ dar. Ein weiterer Schritt in der Rehabilitierung des Hitler-Stellvertreters Rudolf Heß, der der von den Rechten betriebenen Mythenbildung um den „Friedensflieger“, der „nur einen Krieg verhindern wollte“, in die Hände spielt.
Der Gedenkmarsch für den Nationalsozialisten, der sein Tun nie bereut hat, bietet aber darüber hinaus die seltene Gelegenheit, sich positiv auf den NS zu beziehen, ohne strafrechtliche Konsequenzen fürchten zu müssen. Dafür sind Neonazis aus den unterschiedlichsten Spektren bereit, zu diesem Anlass alle Streitereien und Meinungsverschiedenheiten beiseite zu lassen und seltene Einigkeit und Stärke zu demonstrieren. Und nicht zuletzt nutzen die rechten Strukturen auch die dadurch entstehenden praktischen Vorteile einer weiteren Vernetzung auf europäischer Ebene und die Gelegenheit zum Informationsaustausch mit Neonazis aus anderen Ländern.
Über die Bedeutung des Gedenkmarsches für die Szene ist sich die Führungsriege der „Freien Nationalisten“ über alle Differenzen hinweg einig und reiste in diesem Jahr fast ausnahmslos an. Lediglich Steffen Hupka, der für den 12. Oktober in München eine erneute Demonstration gegen die Wehrmachtsausstellung angemeldet hat und beispielsweise den Rudolf-Heß-Marsch 1996 leitete, ließ sich nicht blicken. Die NPD/JN hingegen, die ab 1992 an den Vorbereitungen und Anmeldungen beteiligt war und sich offen mit der militanten NS-Szene solidarisierte, stellte nur einen geringen Teil der Anwesenden, wenn auch der stellvertretende NPD-Parteivorsitzende Holger Apfel gegen Ende der Veranstaltung eine kurze Gastrede halten durfte.
Kaum Veränderungen bei den Organisatoren
Das organisatorische Spektrum des Aufmarsches zum Heß-Gedenken ist über die Jahre hinweg weitgehend unverändert geblieben. Jürgen Rieger, Anmelder der Demonstrationen in Wunsiedel 2001 und 2002 etwa übernahm bereits den Rechtsstreit gegen das Verbot des ersten Rudolf-Heß-Marsches im Jahr 1988 und meldete auch in den 90er Jahren schon selbst Aufmärsche an, von denen etwa der 1991 in Bayreuth genehmigt wurde. Zum festen OrganisatorInnen-Kreis zählen ebenfalls seit 1989 auch Thomas Wulff und Christian Malcoci, der in diesem Jahr auch eine kurze Rede hielt. Etwas mehr im Hintergrund hielt sich in diesem Jahr Christian Worch, der schon maßgeblich an der Organisation des Marsches im Jahr 1989 beteiligt war, Mitte der 90er Jahre das sogenannte „Wunsiedel-Komitee“ leitete und zu diesem Thema zuletzt Demonstrationen im Jahr 2000 angemeldet hatte.
Trotz staatlicher Verbote ist die personelle Zusammensetzung der Führungsebene, die das Heß-Gedenken von jeher organisiert, dieselbe geblieben. Wenn auch die Organisationen, denen viele aus dem hier involvierten Personenkreis Anfang der 90er Jahre angehörten, wie etwa die Gesinnungsgemeinschaft der Neuen Front (GdNF) mit ihren regionalen Untergliederungen, die Freiheitliche Deutsche Arbeiterpartei (FAP) oder die Nationale Liste (NL), längst verboten sind, stellen doch noch immer viele der ehemaligen Kader die organisatorische Struktur des Heß-Gedenkmarsches. Und daran wird sich vermutlich auch in den nächsten Jahren nichts ändern. Rieger zumindest hat sich die Führungsrolle in der Wunsiedel-Organisation bereits gesichert und den jährlichen Aufmarsch in der Kleinstadt, in der Rudolf Heß begraben liegt, bereits bis 2010 angemeldet.