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Buchbesprechung: Der NSU-VS-Komplex

„Schon wieder ein Buch über den NSU?“ mag sich manch ein Mensch fragen, gibt es da überhaupt noch einen Aspekt, der noch nicht zum wiederholten Male erörtert worden ist? „Ja!“ lautet die eindeutige Antwort nach der Lektüre des Buches von Wolf Wetzel.

Der Autor beschränkt sich nicht auf eine Spurensuche im Neonazi-Umfeld der Rechtsterroristen, er widmet sich vielmehr auch denjenigen Institutionen, die an der Aufklärung der Taten des NSU beteiligt sind, also in erster Linie Geheimdienste, Polizei und Zivilgesellschaft.

 

Nazi-Terror habe in der Bundesrepublik Deutschland eine lange Tradition, angefangen bei einer Quote von über 50% ehemaliger NSDAP- und SS-Mitglieder in der Organisation Gehlen (Vorläufer des Bundesnachrichtendienstes BND) über militante Neonazis in den siebziger Jahren zu offenem Terrorismus in den achtziger Jahren (Oktoberfestattentat in München, Mord an Shlomo Levin und Frida Poeschke), weiter über die Angriffe auf Asylbewerber_innen und Migrant_innen in den neunziger Jahren und zu den Taten des NSU.

Wie ein roter Faden ziehe sich durch die Blutspur des rechten Terrors ein Konglomerat des Wegsehens, Vertuschens und auch der Beteiligung seitens staatlicher Stellen, die ja eigentlich an einer Aufklärung der Straftaten interessiert sein sollten. Kein Wunder, wäre der Staat ja oft genug in einer direkten Zusammenarbeit mit neonazistischen Gruppen verbunden, versorge diese mit Know-how und sogar Waffen. Heute sei es kein großes Geheimnis mehr, dass die NATO mit ihrem „Gladio“-Programm neofaschistische Gruppierungen direkt in ihre Strategien eingebunden hätte; eine Erkenntnis, die jahrelang in die Ecke absurder Verschwörungstheorien gestellt worden wäre.

Während viele Ermittlungen gegen den Terror von Rechts schlampig geführt werden oder zu sehr milden Strafen führen würden, würde auf Antifaschist_innen mit der großen juristischen Keule eingedroschen. Dies sind einige der Gründe, weshalb Wetzel das Buch schrieb, wie er in seinem Vorwort darlegt.

Nach seiner Ansicht liegen 95% des NSU-VS-MAD-Komplexes im Dunkeln. Das Buch orientiert sich an den fünf Prozent, die bislang öffentlich gemacht wurden, stellt viele Fragen, die bislang nicht gestellt wurden und versucht, diese Fragen zu beantworten. Ohne zu viel verraten zu wollen, denn das Buch ist absolut lesenswert (wenn auch die Unzahl von Tippfehlern wahnsinnig nervend ist), hier eine kleine Auswahl der Fragen, die aufgeworfen werden:

Bestand der NSU wirklich nur aus drei Personen?

Wer wurde nicht angeklagt und warum?

Leben wir in einem tiefen Staat, in dem sich Staatsterrorismus und Wahlen nicht ausschließen?

Gibt es in diesem Staat operative Kerne, die weder institutionell legitimiert sind, noch parlamentarisch kontrolliert werden und für die terroristische Aktionen kein Problem sind?

Wie nah waren die Geheimdienste an den „spurlos“ Verschwundenen des NSU dran?

Waren Chaos und Pannen bei den Ermittlungen nur vorgetäuschte Inkompetenz einer in Wahrheit gut geführten Behörde?

Reichte der gewöhnliche Rassismus im Polizei- und Ermittleralltag aus, um alle Spuren zu ignorieren, die auf einen neonazistischen Kontext hinwiesen, nur um den Pfad der Ermittlungen in Richtung Ausländerkriminalität nicht verlassen zu müssen?

Wurde ein staatlicher Rettungsschirm über den NSU aufgespannt?

Welche Akten wurden rechtswidrig geschreddert und welche Beweise sollten damit aus der Welt geschafft werden?

Wie weit will die bürgerliche Presse aufklären und wo ist sie Erfüllungsgehilfe der Ermittler_innen?

Begehen staatliche Stellen im Zuge der Ermittlungen Rechtsbruch und machen sich strafbar?

Welche Rollen spielen die Ermittlungsausschüsse?

Welche politischen Konsequenzen müssten sich aus den bisher bekannt gewordenen Fakten ergeben?

Wird rechter Terror genutzt, um das Trennungsgebot von Polizei und Geheimdiensten aufzuheben?

Haben die im Bundestag vertretenen Parteien ein Interesse, ihrer parlamentarischen Kontrollpflicht nachzukommen?

Brachten sich Böhnhardt und Mundlos selbst um und wenn ja, warum?

Weshalb brannte Zschäpe die Wohnung nieder?

Was geschah in den vier Tagen, die Zschäpe auf der Flucht war?

Wie kann die Forderung nach Abschaffung der Geheimdienste durchgesetzt werden?

Wie agiert die antifaschistische Bewegung und wie reagiert der Staat auf diese Bewegung?

In den beiden letzten Kapiteln gibt Wetzel einen historischen Überblick über Faschismustheorien von der Renazifizierung der sechziger Jahre über die These der Faschisierung von Staat und Gesellschaft der siebziger Jahre und die 4.Reich-These der neunziger Jahre, hin zu den Fragen, in welchem Staat wir heute leben und ob der bürgerlich verfasste Staat noch existiert. So stellt sich zum Schluß die Frage: „Wieviel Staat steckt im Nationalsozialistischen Untergrund?“

Wolf Wetzel, Der NSU-VS-Komplex. Wo beginnt der Nationalsozialistische Untergrund – wo hört der Staat auf? Unrast Verlag, Münster 2013, 132 Seiten, 12,00 €, ISBN 978-3-89771-537-0

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